Die Periode 1919-1922: Die Übergangszeit
Die kritische Übergangsphase ab 1918 vom Waffenstillstand bis zum Friedensschluss war für die hiesigen Gebiete eine trübe Epoche. Bekanntlich besetzten die Alliierten bei Kriegsende Deutschland bis zum linken Rheinufer und nahmen gleichzeitig die Überwachung der Neuregelung des gesamten Personen- und Warenverkehrs, sowohl mit dem unbesetzten Deutschland als auch mit dem Ausland in die Hand. Die hierbei verordneten Einschränkungen verursachten der Industrie und dem Handel Hemmnisse und Schwierigkeiten mannigfachster Art. Die Handelskammer machte es sich zur Aufgabe, aufklärend bei den zahllosen in das Wirtschaftsleben tief einschneidende Bestimmungen zu wirken und den betroffenen Firmen bei der Durchführung der vielen neuen Vorschriften nach Kräften behilflich zu sein.
Bereits 1919 vereinbarte die Eupener Handelskammer mit der Aachener Kammer, dass diese wegen der vorliegenden Situation und für die Dauer eines zeitlich begrenzten Provisoriums die Wahrnehmung der gewerblichen Interessen der Kreise Montjoie und Schleiden übernehmen sollte. Dieser provisorische Anschluss wurde später durch das Inkrafttreten des Friedensvertrages im Januar 1920 endgültig, so dass die Eupener Kammer fast die Hälfte ihrer Mitglieder verlor und nur noch mehr für die Kreise Eupen-Malmedy zuständig war.
Schon im Herbst 1919 wurden in den an Belgien abgetretenen Gebiete Eupen und Malmedy Befürchtungen laut, dass eine plötzliche Verlegung der Zollgrenze an den östlichen Rand dieser Kreise stattfinden und deren Warenein- und ausfuhr von und nach Deutschland der Verzollung unterworfen werde. Darüber hinaus bestanden deutsche Ein- und Ausfuhrverbote. Die Handelskammer nahm diese Befürchtung zum Anlass, in einer an den Oberbefehlshaber der Besatzungsarmee der IV. Zone, General Michel, gerichtete Eingabe, die ernstesten Bedenken gegen eine derartige Maßnahme geltend machen.
Auf diese Eingabe hin führte eine Abordnung der Eupener Handelskammer am 13. Juni 1919 in der Kommandatur der Rheinischen Besatzungsarmee zu Aachen eine Besprechung mit dem Präsidenten der Wirtschaftsabteilung der belgischen Besatzungsarmee Gueffens, um gemeinsam die Lage und die Bedürfnisse der Industrie der Kreise Eupen und Malmedy zu besprechen und über die zu ihrer Besserung erforderlichen Maßnahmen zu beraten. Die Hoffnung, den bestehenden Zustand zumindest als Provisorium während einer zu bestimmenden Übergangszeit beibehalten zu können, wurden am 10. Januar 1920 sofort und endgültig durch Inkrafttreten des Friedensvertrages beendet. Die Kreise Eupen und Malmedy wurden von deutscher Seite als “Ausland” angesehen und unverzüglich erfolgte die Verlegung der Zollstationen an die Peripherie der Kreise. Die Handelskammer beschloss nunmehr, mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln gegen die plötzliche Maßnahme zu intervenieren. Sie wandte sich an den jetzt für die hiesigen Gebiete zuständigen Kommissar, General Baltia. Zu Beginn brachten weder die deutschen noch die belgischen Stellen Verständnis für die prekäre Lage auf. Nach wiederholten Eingaben und Schritten wurden Anfang April 1920 beschlossen, dass durch einfache Bescheinigung der Handelskammer die Industrie vorübergehend von der beschwerlichen Beschaffung der Ein- und Ausfuhrbewilligungen entbunden wurden. Ein weiterer Teilerfolg war im Mai 1920 die Aufhebung der belgischen Einfuhrverbote. Die Abwicklung der Geldumwechslung Mark-Franken im Jahre 1920 benachteiligte aufs schwerste die hiesige Industrie und führte zu weiteren Eingaben und Interventionen seitens der Kammer.
Am 21. Juli 1920 wurde in der äußerst wichtigen Angelegenheit der geforderten Zollfreiheit eine außerordentlicher Erfolg erzielt, als der Reichsminister für Finanzen die Landesfinanzämter ermächtigte, Erzeugnisse, die in den Kreisen Eupen und Malmedy hergestellt wurden, von Deutschland zollfrei zuzulassen, wenn Rohstoffe von dort verwendet worden waren. Weitere bedeutende Erleichterungen konnten u.a. bei der Neuordnung des deutschen Zollwesens erreicht werden.
Eine neue Beunruhigung entstand im November 1921, als das Hohe Gouvernement in Malmedy versuchte, der Handelskammer ihren amtlichen Charakter zu nehmen. Diese erste Maßnahme entbehrte einer rechtlichen Grundlage, da das preußische Gesetz vom 24.02.1870 und 19.08.1897 über die Handelskammern zu diesem Zeitpunkt noch Gültigkeit hatte. Aufgrund eines Dekrets vom 18. April 1922 durch den Gouverneur für Eupen-Malmedy, Generalleutnant Baron Baltia, sollte jenes Gesetz für unsere Gebiete außer Kraft gesetzt werden und die Kammer gänzlich aufgehoben werden. Dieses Vorgehen begegnete jedoch einem lebhaften Widerstand in industriellen und gewerblichen Kreisen, weil das für das gesamte wirtschaftliche Leben unseres Bezirks so erfolgreiche Wirken dieser Einrichtung bei den deutschen Behörden lahmgelegt würde. Dem Gouvernement blieb die missbilligende Aufnahme des Dekretes nicht unbekannt.
Die Periode 1922-1940: Die Handelskammer wird freie Fachvereinigung
Sofort bei Bekanntgabe des Dekrets wurde die Handelskammer beim Hohen Kommissar vorstellig zur Umbildung der Kammer in eine freie Fachvereinigung. Gemeinsam mit dem Abteilung für Wirtschaft des Hohen Gouvernement in Malmedy wurden neue Satzungen aufgestellt, die in der Gründungsversammlung vom 21. August 1922 angenommen wurden. Die freie Fachvereinigung, die bei ihrer Gründung aus 114 Mitgliedern bestand, wird von einem neunköpfigen Ausschuss unter der Präsidentschaft von Kommerzienrat Alfred Peters verwaltet.
Die Grenzzollbehörden zogen aus dieser Umwandlung die Schlussfolgerung, dass mit dem “Verschwinden” der Handelskammer nach preußischem Gesetz nun auch die Ausnutzung der Zollvergünstigungen und die Ein- und Ausfuhrerleichterungen ein Ende nehmen würden. Die Kammer unternahm sofort Schritte, um die Beamten davon zu überzeugen, dass die Kammer in ihrer früheren Wirksamkeit bestehen bleibe. Die maßgeblichen Stellen gaben sich mit dieser Richtigstellung zufrieden, und die von der Kammer ausgestellten Bescheinigungen wurden auch weiterhin anerkannt. 1923 erfuhren die bestehenden Erleichterungen eine weitere Ausdehnung, insofern als alle Erzeugnisse der beiden Kreise sogar bewilligungsfrei und zollfrei nach Deutschland eingeführt werden durften. Als Ausweis genügte ein Ursprungszeugnis der Handelskammer zu Eupen.
Nach der Ruhrbesetzung wurde das von der “Haute Commission des Territoires Rhénaux” eingerichtete Ausfuhramt in Ems aufgrund des Londoner Mächte-Abkommens mit dem 21. September 1924 aufgelöst, und alle den beiden Kreisen im Verkehr mit dem besetzten Gebiete gewährten Vergünstigungen sollten ein Ende haben. Nach Intervention der Kammer wurde eine Zwischenlösung gefunden, indem die Handelskammer einen Bevollmächtigten in Berlin bestellte, der nunmehr die Ein- und Ausfuhrgenehmigungen für Eupen-Malmedy nach den Anweisungen der Behörden und der Kammer vermittelte. Am 3. April 1925 wurde durch das belgisch-deutsche Wirtschaftsabkommen die beiderseitigen Ein- und Ausfuhrverbote aufgehoben, ohne Sonderbestimmungen für Eupen-Malmedy vorzusehen. Am 1. Juni 1925 wurde das Hohe Gouvernement von Eupen-Malmedy aufgehoben. Hiermit endete das Sonderregime des Herrn Baltia, und am 1. Januar 1926 bzw. am 1. Januar 1927 wurde die belgische Gesetzgebung in den Kantonen Eupen und Malmedy eingesetzt.
Im Oktober 1926 tritt Herr Kommerzienrat Alfred Peters als Präsident zurück. Nachfolger wird Theodor Pohl. Zum Vize-Präsidenten wird Carl Bourseaux gewählt. Im Mai 1929 tritt Nikolaus Küttingen, Geschäftsführer, in den Ruhestand nach fast 47 Jahre der Tätigkeit bei der IHK. Durch sein zielbewusstes und diplomatisches Geschick bewahrte er die beiden Kreise nach dem ersten Weltkrieg vor einer wirtschaftlichen Katastrophe. 5 Jahre Zollfreiheit, wie sie für Elsaß-Lothringen im Friedensvertrag vorgesehen waren, während sie für Eupen-Malmedy vergessen wurde, hat die Region in erster Linie Herrn Küttingen zu verdanken. Zum Nachfolger des ausscheidenden Geschäftsführers wurde der Kaufmann Alfred Jerusalem gewählt.
Am 12. Dezember 1929 werden neue Satzungen werden durch eine außerordentliche Generalversammlung genehmigt. Der neue Name der Handelskammer lautet: Industrie- und Handelskammer zu Eupen, umfassend die Kantone Eupen-Malmedy-St. Vith. Die Zahl der Ausschussmitglieder wird von 9 auf 12 erhöht: 7 für den Kanton Eupen, 3 für Malmedy und 2 für St. Vith. In dieser Sitzung legt Direktor Pohl, wegen Verlegung des Wohnsitzes, das Amt des Präsidenten nieder. Als neuer Präsident wird Herr Josef Jeuckens gewählt. 1930 schließt sich die Eupener Handelskammer dem Landesverband der Industrie- und Handelskammern an.
In den Jahren 1932-1935 beeinflussten die wirtschaftliche Schwierigkeiten auf dem Weltmarkt alle Zweige der Industrie, des Handels und des Gewerbes unseres Kammerbezirkes. Ein nicht unansehnlicher Teil der Erzeugnisse fand noch in Deutschland einen Absatz, obwohl er sich durch die Lohnanpassungen in Belgien schwieriger gestaltete. Der Warenverkehr mit Deutschland wickelte sich seit 1935 aufgrund von Devisenkontingenten ab, welche der einheimischen Industrie vom Deutschen Reich von Vierteljahr zu Vierteljahr zugestanden wurden. Obwohl die Textil- und die Lederindustrie besonders stark zu leiden hatten, brachten die Jahre 1935-1940 eine Aufwärtsentwicklung. Seit dem Anschluss an Belgien entwickelten sich neue Industriezweige: der Groß- und Einzelhandel sowie das Baugewerbe, wie beispielsweise in Eupen durch den Bau der Wesertalsperre, erlebten einen bis dahin nicht gekannten Aufschwung.
Die Periode 1940-1944: Die Handelskammer wird Aachener Zweigstelle
Mit dem deutschen Einmarsch in Belgien am 10. Mai 1940 wurde auch unser Gebiet zum Kriegsschauplatz. Während der ersten Wochen lagen Industrie und Handel völlig brach. Durch Erlass vom 18. Mai 1940 wurden die Gebiete Eupen, Malmedy und Moresnet wieder Bestandteile des Deutschen Reiches. Von nun an überstürzten sich die Ereignisse auf politischem und besonders auf wirtschaftlichem Gebiete, auch für die Eupener Handelskammer.
Die Grenzen wurden vorverlegt und äußerst streng bewacht. Wenige Monate später richtete sich die belgische Zollbehörde jenseits der neuen Grenzräume ein und begann nunmehr Einfuhrzölle auf hiesige Produkte zu erheben. Am 6. Juni 1940 erschien die Verordnung über die Einführung der Reichsmark, also die zweite Geldumwechslung innerhalb zwanzig Jahren. Da man nicht mit der Kaufkraft des belgischen Frankens nicht Rechnung getragen und diese um 1/5 unterschätzt hatte, brachte die Umwechslung nicht nur 1940 einen mehr als 20-prozentigen Verlust, sondern auch 1944, als man sich auf die Umwechslung von 1940 stützte.
Durch den Erlass des Reichswirtschaftsministers vom 19. Juni 1940 wurden nunmehr die “Kreise” Eupen-Malmedy der Betreuung der Industrie- und Handelskammer für den Regierungsbezirk Aachen bzw. der Handwerkskammer Aachen, je nach Maßgabe der Zuständigkeit, unterstellt. Die Handelskammer zu Eupen wurde eine Zweigstelle der Handelskammer Aachen.
Mit der Einführung der deutschen Gesetzgebung am 1. September 1940 wurde ebenfalls das Aktiengesetz eingeführt. Alle Gesellschaften wurden aufgrund eines Dekretes in deutsche Gesellschaften umgewandelt. Am 20. April 1942 erschien die erste Verordnung über eine Vereinheitlichung der Organisation der gewerblichen Wirtschaft. Durch eine weitere Verordnung wurden 41 deutsche Industrie- und Handelskammern mit sofortiger Wirkung aufgelöst. Es wurden jetzt Gauwirtschaftskammern und Wirtschaftskammern eingerichtet, denen auch die Industrie- und Handelskammer Aachen zum Opfer fiel. Am 1. Januar 1943 gingen die Rechte und Pflichten der früheren Handelskammern auf die Wirtschaftskammern über. Das in Eupen bestehende Sekretariat der früheren Handelskammer blieb lokale Anlaufstelle für die Wirtschaftskammer Aachen bestehen und bemühte sich, die früheren wirtschaftlichen Beziehungen mit dem seit 1940 als “Ausland” bezeichneten besetzten Belgien aufrecht zu erhalten.
Die alliierten Truppen befreiten 1944 in kürzester Zeit Belgien und erreichten Eupen am 11. September 1944. Hiermit nahm die 4 Jahre lang andauernde einseitige Annektion ein Ende. Kaum waren jedoch die hiesigen Gebiete ohne allzu große Kriegsschäden befreit, als am 16. Dezember 1944 die Rundstedt-Offensive, besonders über die Kantone Malmedy-St. Vith, hereinbrach. St. Vith wurde vollständig und Malmedy teilweise zerstört. Durch die Zerstörung der Reparaturwerkstatt der Eisenbahn Sankt Vith, die zeitweilig über 1.000 Personen aus Sankt Vith und seinem geographischen Umfeld beschäftigte, war das wirtschaftliche Schicksal des südlichen Kammerbezirkes für Jahrzehnte besiegelt.